Es gilt das gesprochene Wort!
„In Verantwortung vor Gott und den Menschen“
Wie christlich ist das Grundgesetz?
Predigt zu Matthäus 22,39
von Pfr. Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing
am Reformationstag, 31. Oktober 2024, in der Erlöserkirche in Herrsching
zum Auftakt der Predigtreihe „Christlicher Glaube und Demokratie“
Liebe Gemeinde,
über die Einladung von Pfr. Haberl, in dieser Predigtreihe über „Glaube und Demokratie“ zu sprechen, habe ich mich sehr gefreut. Denn es ist genau mein Thema. Wenn ich zurückblicke, kann ich sogar sagen: mein Lebensthema. Ich habe es in meinem Theologiestudium entdeckt – und zwar in den beiden Semestern, die ich 1986 in München studierte. Ich bin damals Trutz Rendtorff begegnet. Er lehrte Systematische Theologie und Sozialethik. Ein Jahr zuvor, 1985, erschien eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) die folgenden Titel trug: „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie – Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe.“ Vierzig Jahre hat die evangelische Kirche gebraucht, um erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg die Demokratie in einem grundlegenden Beitrag zu würdigen. Ich gehe später noch genauer darauf ein.
Trutz Rendtorff war der Vorsitzende der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD, die diesen Text verfasste. Im Vergleich zu vielen anderen Denkschriften der EKD ist dieser Text mit 48 Seiten klein ausgefallen. Seine Bedeutung ist jedoch immens. Für mich ist es bis heute ein Schlüsseltext, der mein theologisches Denken mehr geprägt hat als manch theologisches Fachbuch. Die Vorlesungen und Seminaren, die ich bei Trutz Rendtorff besuchte und die vielen Gespräche mit ihm, prägen mich bis heute. Sie haben mich – das kann ich Rückblick sagen – zum Grenzgänger werden lasen zwischen Kirche, Politik, Medien und Bildung. Als Persönlicher Referent des Bevollmächtigten des Rates der EKD, dem Chefdiplomaten der evangelischen Kirche an der Schnittstelle zur Politik, als Journalist, Pressesprecher, Koordinator der Medienpolitik der EKD und seit 2011 als Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing – in all diesen Aufgaben war und ist die Ausrichtung meiner Arbeit zwischen Glaube und Demokratie immer bestimmend.
Der Begriff Demokratie kommt in der Bibel an keiner Stelle vor. Aber die Bibel enthält so viele Aspekte, die für eine Demokratie prägend sind, dass Christinnen und Christen nicht gleichgültig sein kann, wie die Staatsform ist, in der sie leben. Nicht gleichgültig, habe ich gesagt. Positiv formuliert bedeutet dies: dass wir uns als Christinnen und Christen engagieren müssen, damit wir auch in Zukunft in einem Land leben, in dem Freiheit, Verantwortung, Gerechtigkeit – um nur drei Stichworte zu nennen – Leitprinzipien bleiben.
Wir erleben in der historischen Entwicklung der letzten dreißig, vierzig Jahre, dass nach einer Ausbreitung der liberalen Demokratie genau diese Staatsform auf dem Rückzug ist. Ich spreche von liberaler Demokratie, weil es auch illiberale Demokratien gibt, was für mich ein Widerspruch ist. Da halte ich es mit Bundespräsident Frank Walter Steinmeier. Eine Demokratie ist entweder liberal – oder sie ist keine Demokratie. Illiberale Demokratien sind eigentlich Autokratien, in denen die Herrschenden zwar Wahlen durchführen, aber selbst bestimmen, wer zur Wahl stehen darf und wer nicht. Die die Unabhängigkeit der Justiz einschränken, die freien Medien und die Zivilgesellschaft. Dies alles widerspricht klar dem Prinzip einer liberalen Demokratie, in der eine Regierung selbstverständlich wechseln kann. In der Autokratie wird alles unternommen, den Wechsel zu verhindern. Es handelt sich um Scheindemokratien, die sich zu Diktaturen entwickeln.
Wir blicken noch einmal zurück – auf die Entwicklung des 20. Jahrhunderts. Mit der Weimarer Republik gab es schon einmal eine Demokratie in Deutschland. Ihr Scheitern wird meist so erklärt: Es war eine Demokratie ohne Demokraten (und Demokratinnen). – Offensichtlich fehlte es am Bewusstsein und der Wertschätzung für die Möglichkeiten, die sie bietet: ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit mit gesetzlich garantierten Rechten und Pflichten führen zu können. Und es war eine Demokratie, in der die Kirchen in der Weimarer Republik nicht erkannten, was bei einem Scheitern auf dem Spiel steht. Dass die Kirchen ihrer Verantwortung für das Gemeinwesen nicht gerecht wurden, gehört zur historischen Wahrheit dazu. Und auch, dass sie die verheerende Kraft des Nationalsozialismus unterschätzten und warnende Stimmen wie die eines Dietrich Bonhoeffer ignorierten.
Nach dem Ende der Diktatur des Nationalsozialismus hat die evangelische Kirche an vielen Stellen neu angesetzt. Sie hat Innovationen hervorgebracht wie den Kirchentag und Evangelische Akademien – als Orte des freien Diskurses, an denen die unterschiedlichen Kräfte der Zivil- und Bürgergesellschaft Lösungen oder Teillösungen entwickeln und ausprobieren.
Zu einer Neubestimmung kam es auch im Verhältnis der evangelischen Kirche zum Judentum. Ein Prozess, der Jahrzehnte in Anspruch genommen hat. Und dies gilt auch für die Klärung des Verhältnisses zur freiheitlichen Demokratie – zum Staat des Grundgesetzes. Dieser nimmt vierzig Jahre in Anspruch – ich deutete es schon an –, ehe der Rat der EKD 1985 eine wegweisende Denkschrift vorlegt.
Wer jetzt denkt, was haben denn staatstheoretische Erörterungen in einer Predigt zu suchen, den möchte ich darauf hinweisen, dass bei unserem Nachdenken heute es um unser Selbstverständnis als Christinnen und Christen in dieser Gesellschaft geht. Und hierfür setzt die Denkschrift der EKD von 1985 einen Maßstab.
Die Zustimmung der evangelischen Kirche zur Demokratie schließt die Überzeugung ein, dass die politische Ordnung „verbesserungsfähig und verbesserungswürdig“ ist. Demokratie im evangelischen Verständnis heißt mit den Worten der Denkschrift: „Als evangelische Christen stimmen wir der Demokratie als einer Verfassungsform zu, die die unantastbare Würde der Person als Grundlage anerkennt und achtet. Den demokratischen Staat begreifen wir als Angebot und Aufgabe für die politische Verantwortung aller Bürger und so auch für evangelische Christen. In der Demokratie haben sie den von Gott dem Staat gegebenen Auftrag wahrzunehmen und zu gestalten.“
Die Wertschätzung der Demokratie ist darin begründet, dass zu ihren Grundelementen die Achtung der Würde des Menschen sowie die Anerkennung der Freiheit und der Gleichheit gehören, aus denen das Gebot politischer und sozialer Gerechtigkeit folgt. Wie der demokratische Staat seinen Auftrag wahrnimmt, darin ist eine Nähe zum christlichen Menschenbild erkennbar. „Nur eine demokratische Verfassung kann heute der Menschenwürde entsprechen“, heißt es in der Denkschrift.
Zu den Vorzügen der Demokratie rechnet die Denkschrift auch die Toleranz als ein „grundlegendes Strukturmerkmal“. Ausdrücklich gewürdigt werden u.a. das Rechtsstaatsprinzip, die Grundrechte und die Gewaltenteilung. Zusammenfassend heißt es: „Keine heute bekannte Staatsform bietet eine bessere Gewähr, die gestellten Probleme zu lösen, als die freiheitliche Demokratie.“
In den Stellungnahmen der evangelischen Kirche seither und auch in denen, die im ökumenischen Kontext entstanden sind, ist das Bewusstsein für den Wert der Demokratie weiter gewachsen. Das politische Engagement der Kirchen bleibt eine verpflichtende Aufgabe. Sie ist geprägt von dem Willen, aus den Irrtümern unserer Geschichte zu lernen. Dieser Lernprozess hört nie auf – und nie darf man sich zufrieden zurücklehnen. Der Rechtsextremismus lauert nur auf seine Gelegenheit. Unsere Demokratie ist bislang stabil und wehrhaft. Das soll und muss auch so bleiben.
In diesem Zusammenhang ist die Zivilgesellschaft ein unverzichtbares Element und zugleich auch Instrument. Sie markiert etwas Eigenständiges, was es in der NS-Diktatur nicht gab, weil die NSDAP das politische, kulturelle und gesellschaftliche Leben dominierte. Der Erfolg unserer Demokratie ist jedoch untrennbar mit den Aktivitäten der Zivilgesellschaft verbunden, zu denen auch die Kirchen gehören.
Die Frage „Wie christlich ist das Grundgesetz?“ erfährt durch den Titel meiner Predigt eine erste Antwort: „In Verantwortung vor Gott und den Menschen.“ In der Präambel, also dem Vorwort des Grundgesetzes von 1949 heißt es ausführlicher: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das deutsche Volk dieses Grundgesetz gegeben.“
Der Hinweis auf den Gottesbezug ist aber noch nicht vollständige Antwort. Im Grundgesetz findet sich noch viel mehr, was seine Wurzeln im jüdisch-christlichen Fundament hat, auf dem wir stehen. Einige Beispiele:
Art. 1, Abs. 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Das entspricht dem christlichen Menschenbild: Verantwortung und Würde des Menschen, die er als Bild Gottes hat. Wer einen Menschen verletzt an Leib oder Seele, der vergreift sich letztlich an Gott.
Art. 1, Abs. 2: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten.“
Hier steht übrigens: Die Würde des Menschen… - und nicht: Die Würde des deutschen Menschen…
Lesen Sie bitte selbst einmal nach, dann werden Sie erkennen, dass unser Grundgesetz vielfach Bezug nimmt auf etwas, das heute in den Kirchen unstrittig ist:
Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Leben, Unantastbarkeit des Körpers,
auf Freiheit, Art. 2,
Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, Art. 3,
keine Benachteiligung oder Bevorzugung aufgrund des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und Herkunft, Freiheit der Religion, Weltanschauung, des Gewissens, Art. 4,
Meinungsfreiheit, Freiheit von Presse, Kunst und Wissenschaft, Art. 5.
Heute ist das alles auch in den Kirchen unstrittig. Zur historischen Wahrheit gehört, dass diese Rechte formal gegen die Kirchen durchgesetzt werden mussten. Für die evangelische Kirche gilt, dass sie nicht nur durch die Reformation, sondern auch durch Humanismus und Aufklärung geprägt ist.
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ – Matthäus 22,39 – das biblische Motto meiner Predigt ist Teil des Doppelgebots der Liebe, das in seinem ersten Teil an die Ehrfurcht vor Gott erinnert. Die Verantwortung vor Gott ist im biblischen wie im gesellschaftlichen Kontext elementar und existentiell mit der Nächstenliebe – mit Solidarität – verbunden. Das macht das Doppelgebot der Liebe zu einem, vielleicht sogar zu dem Schlüsseltext der Bibel.
Wir sollten dankbar sein, dass unser Grundgesetz hier Grundsätzliches anspricht, was dem Zusammenhalt dient – und eben nicht unterscheidet zwischen „wir“ und „den anderen“, wie es rechtsextremer Denkweise entspricht.
Diese verleugnet – das müssen wir uns klarmachen – alle wesentlichen Grundsätze, die das Christentum ausmachen: die Gleichheit aller Menschen als Geschöpfe Gottes, ihre Gottebenbildlichkeit, die biblische Ethik der Einfühlung gegenüber Bedürftigen, zu denen die Fremden gehören, die bleibende Erwählung des Volkes Israel, sowie die grundsätzliche Überschreitung von sozialen und ethnischen Grenzen.
Rechtsextremes Gedankengut ist geprägt von einem antipluralistischen, antidemokratischen und autoritären Gesellschaftsverständnis. Politischen Ausdruck findet es in Bemühungen, den Nationalstaat zu einer autoritär geführten „Volksgemeinschaft“ in einem rassistischen Sinn umzugestalten. Der Staat als freiheitliche Demokratie mit den im Grundgesetz verbrieften Menschenrechten wird deshalb abgelehnt und bekämpft.
Um es klar zu sagen: Rechtsextremes Gedankengut ist mit dem christlichen Glauben unvereinbar. Dies gilt prinzipiell und ohne Ausnahme für alle menschenfeindlichen Einstellungen in Deutschland, die unter „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ zusammengefasst werden. Dazu gehören u.a. Rassismus, Sexismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Homophobie. Ihr gemeinsamer Kern: die Ideologie der Ungleichwertigkeit.
Im Lichte der biblisch-theologischen Grundlagen, die ich zuvor skizzierte, folgt für Christinnen und Christen die Verpflichtung, gegen jedwede Abwertung und Missachtung von Menschen aufzustehen und für die Würde aller einzutreten.
In den letzten Jahren sind zahlreiche Bündnisse für Toleranz, zum Schutz der Menschenwürde und gegen Rechtsextremismus auf Bundes- und Länderebene sowie in den Kommunen entstanden. Eine Vielzahl von Initiativen und Programmen ist in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit entwickelt worden, in denen Respekt und Toleranz eingeübt werden. Hass, Hetze, Respektlosigkeit und Intoleranz wird öffentlich entschieden widersprochen. Das ist gut so – und nötig. Das Eintreten für gelebte Menschenfreundlichkeit kennzeichnet unsere Gesellschaft, für die auch Christinnen und Christen Verantwortung tragen.
Dass wir für dieses Eintreten stets die nötige Kraft finden, darum bitten wir Gott.
Amen.